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Kapitel 104 Die geistige Sonne, Buch 2

Worin die wahre Nächstenliebe besteht

(Am 10. November 1843 von 4 1/2 – 6 1/2 Uhr abends.)

1. Um aber gründlich zu wissen, worin die eigentliche wahre Nächstenliebe besteht, muss man auch im Voraus wissen und gründlich verstehen, wer so ganz eigentlich ein Nächster ist. Darin liegt der Hauptknoten begraben. Man wird sagen: Woher aber sollte man das nehmen? Denn der Herr Selbst, als der alleinige Aufsteller der Nächstenliebe, hat da nirgends nähere Bestimmungen gemacht. Als Ihn die Schriftgelehrten fragten, wer der Nächste sei, da zeigte Er ihnen bloß in einem Gleichnis, wer ein Nächster zum bekannten verunglückten Samaritan war, nämlich ein Samaritan selbst, der ihn in die Herberge brachte und früher Öl und Wein in seine Wunden goss.

2. Aus dem aber geht hervor, dass nur unter gewissen Umständen die verunglückten Menschen an ihren Wohltätern Nächste haben und sind somit auch umgekehrt die Nächsten zu ihren Wohltätern. Wenn es also nur unter diesen Umständen Nächste gibt, was für Nächste haben denn dann die gewöhnlichen Menschen, welche weder selbst ein Unglück zu bestehen haben, noch irgend einmal in die Lage kommen, einem Verunglückten beizuspringen? Gibt es denn keinen allgemeineren Text, der die Nächsten näher bezeichnen möchte? Denn bei diesem ist nur die höchste Not und auf der anderen Seite eine tüchtige Wohlhabenheit, gepaart mit einem guten Herzen, als Nächsttum einander gegenübergestellt.

3. Wir wollen daher sehen, ob sich nicht solche ausgedehntere Texte vorfinden. Hier wäre einer, und dieser lautet also:

4. „Segnet, die euch fluchen, und tut Gutes euren Feinden!“ Das wäre ein Text, aus welchem klar zu ersehen ist, dass der Herr die Nächstenliebe ziemlich weit ausgedehnt hat, indem Er sogar die Feinde und Flucher nicht ausgenommen hat.

5. Ferner lautet ein anderer Text: „Macht euch Freunde am ungerechten Mammon“. Was will der Herr damit anzeigen? Nichts anderes, als dass der Mensch keine Gelegenheit solle vorübergehen lassen, um dem Nächsten Gutes zu tun, und gestattet sogar, in äußerer Hinsicht genommen, eine offenbare Veruntreuung am Gut eines Reichen, wenn dadurch, freilich nur im höchsten Notfall, vielen oder wenigstens mehreren Bedürftigen geholfen werden kann.

6. Weiter finden wir einen Text, wo der Herr spricht: „Was immer ihr einem aus diesen Armen Gutes tut in Meinem Namen, das habt ihr Mir getan“. Diesen Satz bestätigt der Herr bei der Darstellung des jüngsten oder geistigen Gerichtes, da Er zu den Auserwählten, wie zu den Verworfenen spricht: „Ich kam nackt, hungrig, durstig, krank, gefangen und ohne Dach und Fach zu euch, und ihr habt Mich aufgenommen, gepflegt, bekleidet, gesättigt und getränkt“ – und desgleichen zu den Verworfenen, wie sie solches nicht getan haben. Und die Guten entschuldigen sich, als hätten sie solches nie getan, und die Schlechten, als möchten sie solches wohl getan haben, so Er zu ihnen gekommen wäre. Und der Herr deutet dann deutlich an:

7. „Was immer ihr den Armen in Meinem Namen getan oder nicht getan habt, das galt Mir.“

8. Aus diesem Text wird die eigentliche Nächstenliebe schon so ziemlich klar herausgehoben, und es wird gezeigt, wer demnach die eigentlichen Nächsten sind.

9. Wir wollen aber noch einen Text betrachten, und dieser lautet also: „So ihr Gastmähler bereitet, da ladet nicht solche dazu, die es euch mit einem Gegengastmahl vergelten können. Dafür werdet ihr keinen Lohn im Himmel haben, denn solchen habt ihr auf der Welt empfangen. Ladet aber Dürftige, Lahme, Bresthafte, in jeder Hinsicht arme Menschen, die es euch nicht wieder vergelten können, so werdet ihr euren Lohn im Himmel haben. Also leiht auch denen euer Geld, die es euch nicht wieder zurückerstatten können, so werdet ihr damit für den Himmel wuchern. Leiht ihr aber euer Geld denen, die es euch zurückerstatten können samt Interessen, so habt ihr euren Lohn dahin. Wenn ihr Almosen gebt, da tut solches im Stillen, und eure rechte Hand soll nicht wissen, was die linke tut. Und euer Vater im Himmel, der im Verborgenen sieht, wird euch darum segnen und belohnen im Himmel!“

10. Ich meine, aus diesen Texten sollte man schon so ziemlich mit den Händen greifen, wer vom Herrn aus als der eigentliche Nächste bezeichnet ist. Wir wollen darum sehen, was für ein Sinn dahintersteckt.

11. Überall sehen wir vom Herrn aus nur Arme den Wohlhabenden gegenübergestellt. Was folgt daraus? Nichts anderes, als dass die Armen den Wohlhabenden gegenüber als die eigentlichen Nächsten vom Herrn aus bezeichnet und gestellt sind, und nicht Reiche gegen Reiche und Arme gegen Arme. Reiche gegen Reiche können sich nur dann als Nächste betrachten, wenn sie sich zu gleich guten, Gott wohlgefälligen Zwecken vereinen. Arme aber sind sich ebenfalls nur dann als Nächste gegenüberstehend, so sie sich ebenfalls nach Möglichkeit in der Geduld und in der Liebe zum Herrn wie unter sich brüderlich vereinen.

12. Der erste Grad der Nächstenliebe bleibt demnach immer zwischen den Wohlhabenden und Armen, und zwischen den Starken und Schwachen, und steht in gleichem Verhältnis mit dem zwischen Eltern und Kindern.

13. Warum aber sollen die Armen gegenüber den Wohlhabenden, die Schwachen gegenüber den Eltern als vollkommen die Allernächsten betrachtet und behandelt werden? Aus keinem anderen als aus folgendem ganz einfachen Grund, weil der Herr, als zu einem jeden Menschen der Allernächste, Sich vorzugsweise nach Seinem eigenen Ausspruch in den Armen und Schwachen wie in den Kindern auf dieser Welt repräsentiert. Denn Er spricht ja Selbst: „Was immer ihr den Armen tut, das habt ihr Mir getan!“ Werdet ihr Mich schon nicht immer wesenhaft persönlich unter euch haben, so werdet ihr aber dennoch allzeit Arme als gewisserart (wollte der Herr sagen) Meine vollkommenen Repräsentanten unter euch haben.

14. Also spricht der Herr auch von einem Kind: „Wer ein solches Kind in Meinem Namen aufnimmt, der nimmt Mich auf“.

15. Aus allem dem geht aber hervor, dass die Menschen gegenseitig sich nach dem Grad mehr oder weniger als Nächste zu betrachten haben, je mehr oder weniger sie erfüllt sind vom Geist des Herrn. Der Herr aber spendet seinen Geist nicht den Reichen der Welt, sondern allzeit nur den Armen, Schwachen und weltlich Unmündigen. Der Arme ist dadurch schon mehr und mehr vom Geist des Herrn erfüllt, weil er ein Armer ist, denn die Armut ist ja ein Hauptanteil des Geistes des Herrn.

16. Wer arm ist, hat in seiner Armut Ähnlichkeit mit dem Herrn, während der Reiche gar keine hat. Diese kennt der Herr nicht. Aber die Armen kennt Er. Daher sollen die Armen den Reichen die Nächsten sein, zu denen sie, die Reichen, kommen müssen, wenn sie sich dem Herrn nahen wollen; denn die Reichen können unmöglich sich als dem Herrn Nächsten betrachten. Denn der Herr Selbst hat bei Gelegenheit der Erzählung vom reichen Prasser die unendliche Kluft zwischen Ihm und ihnen gezeigt. Nur den armen Lazarus stellt Er in den Schoß Abrahams, also als Ihm, dem Herrn, am nächsten.

17. Also zeigte der Herr auch bei der Gelegenheit des reichen Jünglings, wer zuvor seine Nächsten sein sollten, bevor er wieder kommen möchte zum Herrn und Ihm folgen. Und es stellt der Herr allenthalben die Armen wie die Kinder als Ihm die Nächsten oder auch als Seine förmlichen Repräsentanten dar. Und diese sollte der Wohlhabende lieben wie sich selbst, nicht aber auch zugleich die seinesgleichen. Denn darum sprach der Herr, dass dieses Gebot der Nächstenliebe dem ersten gleich ist, womit Er nichts anderes sagen wollte als: Was ihr den Armen tut, das tut ihr Mir!

18. Dass sich aber die Reichen nicht gegenseitig als die Nächsten betrachten sollen, erhellt daraus, wo der Herr spricht, dass die Reichen nicht wieder Reiche zu Gaste laden und ihr Geld nicht wieder den Reichen leihen sollen, wie auch, da Er dem reichen Jüngling nicht geboten hatte, seine Güter an die Reichen, sondern nur an die Armen zu verteilen.

19. Wenn aber irgendein Reicher sagen möchte: Meine Allernächsten sind doch meine Kinder, da sage ich: Mitnichten! Denn der Herr nahm nur ein armes Kind, das am Weg förmlich bettelte, auf und sprach: „Wer ein solches Kind in Meinem Namen aufnimmt, der nimmt Mich auf!“ Mit Kindern der Reichen hatte der Herr nie etwas zu tun gehabt.

20. Aus dem Grunde begeht der Reiche, wenn er ängstlich für seine Kinder sorgt, eine gar starke Sünde gegen die Nächstenliebe. Der Reiche sorgt dadurch für seine Kinder am besten, wenn er fürs Erste für eine dem Herrn wohlgefällige Erziehung sorgt und sein Vermögen nicht für seine Kinder aufspart, sondern es den Armen zum allergrößten Teil zuwendet. Tut er das, so wird der Herr seine Kinder ergreifen und sie führen den besten Weg. Tut er das nicht, so wendet der Herr Sein Angesicht weg von ihnen, zieht Seine Hände zurück und überlässt schon sogleich ihre zarteste Jugend den Händen der Welt, was so viel sagen will als den Händen des Teufels, damit dann aus ihnen Weltkinder, Weltmenschen, was so viel sagen will als selbst Teufel werden.

21. Wüsstet ihr, wie überaus bis in den untersten, dritten Grad der Hölle alle die Stammkapitalien und besonders die Fideikommisse vom Herrn aus auf das Erschrecklichste verflucht sind, ihr würdet da vor Schreck und Angst zur Härte eines Diamanten erstarren!

22. Daher sollen ja alle Reichen, wo sie immer sein mögen, dieses so viel als möglich beherzigen, ihr Herz so viel als möglich von ihren Reichtümern abwenden und damit, nämlich mit den Reichtümern, so viel als möglich Gutes tun, wollen sie der ewigen Selchküche entgehen. Denn es gibt jenseits eine zweifache Selchanstalt, eine langwierige in düsteren Örtern, von denen aus nur ganz unbegreiflich eingeschmälerte Pfade führen, vor denen es den Wanderern nicht viel besser ergeht wie den Kamelen vor den Nadelöhren. Es gibt aber auch eine ewige Selchanstalt, aus der meines Wissens bis jetzt noch keine Pfade führen. Das also zur Beherzigung für Reiche wie auch für jedermann, der irgend so viel besitzt, dass er den Armen noch immer etwas tun kann. Daraus aber ist nun dargetan, worin die eigentliche Nächstenliebe besteht. Also auch wird sie hier in der Sonne gelehrt und fortwährend ausgeübt. Wie aber solches geschieht, wollen wir in der Folge näher betrachten.

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