Help

jakob-lorber.cc

Kapitel 97 Die geistige Sonne, Buch 2

Der geistige Sinn des zehnten Gebotes

(Am 28. Oktober 1843 von 3 3/4 – 6 Uhr abends.)

1. Das Gesetz lautet sonach, wie wir es bereits nur schon zu überaus stark auswendig wissen: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“ – oder: Du sollst kein Verlangen haben nach deines Nächsten Weib, was eines und dasselbe ist. – Wer ist denn das Weib und wer ist der Nächste?

2. Das Weib ist eines jeden Menschen Liebe und der Nächste ist jeder Mensch, mit dem ich irgend in Berührung komme oder der irgend, wo es sein kann, möglich und notwendig ist, meiner Hilfe bedarf. Wenn wir das wissen, so wissen wir im Grunde schon alles.

3. Was besagt demnach das Gebot? Nichts anderes als: Ein jeder Mann soll nicht eigenliebig die Liebe seines Nächsten auffordernd zu seinem Besten verlangen; denn Eigenliebe ist an und für sich nichts anderes, als sich die Liebe anderer zuziehen zum eigenen Genuss, aber von ihm selbst keinen Funken Liebe mehr wiederzuspenden.

4. So lautet demnach das Gesetz in seinem geistigen Ursinn. Man sagt aber:

5. Hier ist es doch offenbar in einem Sinn des Buchstabens wiedergegeben, den man im Anfang ebenso gut wie jetzt hätte aussprechen können; und es wäre dadurch so vielen Abirrungen vorgebeugt gewesen. – Ich aber sage: Das ist allerdings richtig. Wenn man einen Baum bei der Mitte auseinanderspaltet, so kommt dann sicher der Kern auch nach außen, und man kann ihn ebenso bequem beschauen wie ehedem beim konkreten Baum die alleinige Rinde.

6. Der Herr aber hat den inneren Sinn darum geflissentlich weise in ein äußeres naturmäßiges Bild verhüllt, damit dieser heilige, inwendige, lebendige Sinn nicht sollte von irgend böswilligen Menschen angegriffen und zerstört werden, wodurch dann alle Himmel und Welten in den größten Schaden gebracht werden könnten. Aus diesem Grunde hat auch der Herr gesagt: „Vor den großen und mächtigen Weisen der Welt soll es verborgen bleiben und nur den Kleinen, Schwachen und Unmündigen geoffenbart werden“.

7. Es verhält sich aber ja schon mit den Dingen der Natur gerade also. Nehmen wir an, der Herr hätte die Bäume so erschaffen, dass ihr Kern und ihre Hauptlebensorgane zu äußerst des Stammes lägen – sagt selbst, wie vielen Todesgefahren wäre da ein Baum zu jeder Sekunde ausgesetzt?

8. Ihr wisst, wenn man an einem Baum seinen inneren Kern etwa geflissentlich oder mutwillig durchbohrt, so ist es um den Baum geschehen. Wenn irgendein böser Wurm die Hauptstammwurzel, welche mit dem Kern des Baumes in engster Verbindung ist, durchnagt, so stirbt der Baum ab. Wem ist nicht der sogenannte bösartige Sportenkäfer [Borkenkäfer] bekannt? Was tut dieser den Bäumen? Er nagt zuerst am Holz und frisst sich hier und da in die Hauptorgane des Baumes ein und der Baum stirbt ab. Wenn der Baum auf diese wohlverwahrte Weise schon so manchen Lebensgefahren ausgesetzt ist, wie vielen Lebensgefahren wäre er erst dann ausgesetzt, so seine Hauptlebensorgane zu äußerst des Stammes lägen?

9. Seht, gerade so und noch ums Unaussprechliche heikliger verhält es sich mit dem Wort des Herrn. Würde da gleich anfänglich der innere Sinn nach außen hinausgekehrt gegeben, so bestände schon gar lange keine Religion mehr unter den Menschen; denn sie hätten diesen inneren heiligen Sinn in seinem Lebensteil ebenso gut zernagt und zerkratzt, wie sie es mit der äußeren Rinde am Baum des Lebens getan haben – und hätten schon lange die innere heilige Stadt Gottes ebenso gut zerstört, dass da kein Stein auf dem anderen geblieben wäre, wie sie es fürs Erste mit dem alten Jerusalem getan haben und wie mit dem äußeren, allein Buchstabensinn innehabenden Wort.

10. Denn das Wort Gottes in seinem äußeren Buchstabensinn, wie ihr es in der Heiligen Schrift vor euch habt, ist von dem Urtext so sehr verschieden, als wie verschieden das heutige höchst elende Städtchen Jerusalem von der alten Weltstadt Jerusalem ist.

11. Alle diese Versetzung und Zerstückung und auch Abkürzung im alleinigen äußeren Buchstabensinn ist aber dennoch dem inneren Sinn nicht nachteilig, weil der Herr durch Seine weise Vorsehung schon von Ewigkeit her also die Ordnung getroffen hat, dass eine und dieselbe geistige Wahrheit unter den verschiedenartigsten äußeren Bildern unbeschadet erhalten und gegeben werden kann.

12. Aber ganz anders wäre es dann der Fall, wenn der Herr sogleich die nackte innere geistige Wahrheit ohne äußere schützende Umhüllung gegeben hätte. Sie [die Welt] hätte diese heilige, lebendige Wahrheit zernagt und zerstört nach ihrem Gutdünken, und es wäre eben dadurch um alles Leben geschehen gewesen.

13. Weil aber der innere Sinn so verdeckt ist, dass ihn die Welt unmöglich je ausfindig machen kann, so bleibt das Leben gesichert, wenn auch dessen äußeres Gewand in tausend Stücke zerrissen wird. Und so klingt dann freilich der innere Sinn des Wortes, wenn er geoffenbart wird, ebenfalls so als wäre er gleich dem Außensinn des Wortes, und kann ebenfalls durch artikulierte Laute oder Worte ausgedrückt werden; deswegen bleibt er dennoch ein innerer, lebendiger, geistiger Sinn und ist als solcher dadurch erkennbar, weil er die gesamte göttliche Ordnung umfasst, während das ihn enthaltende Bild nur ein spezielles Verhältnis ausdrückt, welches, wie wir gesehen haben, nie von einer allgemeinen Geltung sein kann.

14. Wie aber das soeben abgehandelte Gebot im Bild ein äußeres Hüllwerk nur ist, und wie der euch nun bekanntgegebene innere Sinn ein wahrhaft innerer, geistiger und lebendiger ist, wollen wir sogleich durch eine kleine Nachbetrachtung in ein klares Licht setzen.

15. Das äußere bildliche Gebot ist bekannt, innerlich heißt es: Habe kein Verlangen nach der Liebe deines Bruders oder deiner Schwester!

16. Warum wird denn hier dieses inhalts- und lebensschwere Gebot in das Bild des nicht zu begehrenden Weibes gehüllt?

17. Ich mache euch bei dieser Gelegenheit nur auf einen Ausspruch des Herrn Selbst aufmerksam, in dem Er Sich über die Liebe des Mannes zum Weib also äußert, da Er spricht: „Also wird ein Sohn seinen Vater und seine Mutter verlassen und seinem Weib anhangen“.

18. Was will der Herr dadurch anzeigen? Nichts anderes als: des Menschen mächtigste Liebe auf dieser Welt ist die zu seinem Weib. Was aber liebt der Mensch in seiner Ordnung mehr auf der Welt als sein liebes braves, gutes Weib? Im Weib steckt somit des Mannes ganze Liebe, wie auch umgekehrt das Weib in seiner Ordnung sicher nichts mächtiger liebt als einen ihrem Herzen entsprechenden Mann.

19. So wird denn auch in diesem Gebot unter dem Bild des Weibes, des Mannes – oder des Menschen überhaupt – komplette Liebe gesetzt, weil das Weib im Ernst nichts anderes als eine äußere, zarte Umhüllung der Liebe des Mannes ist.

20. Wem kann nun bei dieser Erklärung entgehen, dass unter dem Bild: „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib“ ebenso viel gesagt ist als: Du sollst nicht dir zu deinem Vorteil die Liebe deines Nächsten verlangen, und das natürlich die ganz komplette Liebe, weil das Weib auf der Welt ebenfalls die komplette Liebe des Mannes in sich begreift.

21. Wenn ihr aber nun dieses nur einigermaßen genau betrachtet, so werdet ihr es gar leicht sogar mit den Händen greifen, dass alle die äußeren, uns bekannten Unbestimmtheiten des äußeren bildlichen Gesetzes nichts als lauter innere allgemeine Bestimmtheiten sind. Wie aber, wollen wir sogleich sehen.

22. Seht, das „Du“ ist unbestimmt. Warum denn? Weil dadurch im inneren Sinne jedermann verstanden wird; ob des männlichen oder des weiblichen Geschlechts, das ist gleich. Also ist das Weib ebenfalls unbestimmt, und es ist nicht gesagt, ob ein altes oder ein junges, ob eins oder mehrere, ob ein Mädchen oder eine Witwe. Warum ist solches unbestimmt? Weil die Liebe des Menschen nur eine ist, und ist weder ein altes noch ein junges Weib, noch eine Witwe, noch ein lediges Mädchen, sondern sie als die Liebe ist in jedem Menschen nur gleich eine, nach welcher der andere Nebenmensch kein Verlangen haben soll, weil fürs Erste diese Liebe eines jeden Menschen eigenstes Leben selbst ist, und weil fürs Zweite dann ein jeder, der nach solcher Liebe ein habsüchtiges, neidisches oder geiziges Verlangen hat, gewisserart als ein Mordlustiger neben seinem Nächsten erscheint, indem er sich der Liebe oder des Lebens desselben zu seinem Vorteil bemächtigen möchte. Also ist auch der Nächste unbestimmt. Warum denn? Weil dadurch im geistigen Sinne jeder Mensch ohne Unterschied des Geschlechts verstanden wird.

23. Ich meine, daraus sollte euch schon so ziemlich klar sein, dass der von mir euch kundgegebene innere Sinn der alleinig rechte ist, weil er alles umfasst.

24. Es wird freilich hier vielleicht mancher, aus seinem Mondviertellicht heraus sich hochbrüstend, einwendend sagen: Ja, wenn die Sache sich so verhält, da ist es ja hernach gar keine Sünde, wenn jemand seines Nächsten Weib oder Töchter beschläft oder sie dazu verlangt. – Da sage ich: Oho, mein lieber Freund! Mit diesem Einwurf hast du ungeheuer stark ins Blaue gedroschen. Wird unter dem, dass du nicht die Liebe deines Nächsten begehren solltest, und zwar seine komplette Liebe, nicht alles das verstanden, was er als lebensteuer in seinem Herzen trägt? Siehe, also sind auch im Ernst nicht nur das Weib und die Töchter deines Nächsten in diesem Gebot deinem Verlangen vorenthalten, sondern alles, was die Liebe deines Bruders umfasst.

25. Aus diesem Grunde wurden auch uranfänglich die zwei letzten Gebote als ein Gebot zusammengezogen gegeben, und sind nur dadurch unterschieden, dass im neunten Gebot des Nächsten Liebe mehr sonderheitlich zu respektieren dargestellt ward, in unserem zehnten Gebot aber eben dasselbe als im inwendigsten Sinne ganz allgemein zusammengefasst zur respektierenden Beobachtung dargestellt wird.

26. Dass sonach dadurch auch das Begehren des Weibes und der Töchter des Nächsten verboten ist, kann doch sicher ein jeder Mensch mit seinen Händen greifen, und es verhält sich mit der Sache geradeso, als so man jemandem einen ganzen Ochsen gibt, man damit auch seine Extremitäten, seinen Schweif, Hörner, Ohren und Füße etc. mitgibt. Oder so der Herr jemandem eine Welt schenken würde, da wird Er ihm doch alles, was auf derselben ist, mitgeben und nicht sagen: Nur das Innere der Welt gehört dir, die Oberfläche aber gehört Mir.

27. Ich meine nun, klarer kann die Sache zum Verständnis des Menschen nicht gegeben werden. Wir haben nun den inneren, wahren Sinn dieses Gebotes, wie er in allen Himmeln ewig geltend ist und die Glückseligkeit aller Engel bedingt, vollkommen kennengelernt und sind jedem möglichen Einwurf begegnet. Also sind wir damit auch zu Ende und wollen uns daher sogleich in den elften glänzenden Saal vor uns begeben. Allda werden wir erst alles bisher Gesagte im klarsten Licht wie auf einem Punkt zusammengefasst und bestätigt finden. Also treten wir hinein!

Kapitel 97 Mobile Ansicht Impressum